Direkt am Deich – Der Dauercamper von Schillig

Camping an der Nordsee

Spezial. Neues von „Luv & Lü“, dem Blog über Menschen aus dem Wangerland:

Wilhelm Retzlaff, geboren in Ostfriesland, kann eigentlich alles. Ganz besonders gut allerdings kann er über das Leben philosophieren und fantastische Geschichten von seinem Dasein als Proficamper in Schillig erzählen. Willi ist dabei eine Erscheinung: Er hat gepflegte, längere weiße Haare, trägt Bart und überall Tattoos sowie Armbänder irischer Herkunft und eine tiefe Bräune. Er sieht aus wie einer, der unablässig Spaß am Leben hat und vor Lebensfreude platzt. Das Beste daran: Er ist tatsächlich so!

Es ist schon ein ungewöhnliches Zuhause, das wir bei unserem Besuch antreffen: Wilhelm Retzlaff, 70 Jahre alt, lebt seit 41 Jahren auf dem Campingplatz in Schillig im Wangerland an der Nordsee, einem der ältesten und größten Campingplätze in Deutschland. Willis trautes Heim, das ist ein Wohnwagen mit direktem Blick aufs Meer: „So langsam hat man sich vorgearbeitet. Wir sitzen jetzt mit der ersten Wohnwagen-Reihe direkt am Deich, da kann man wunderbar die Leute von hinten begucken und das Ratespiel machen ‚Wer gehört zu wessen Hintern’“, erzählt er und grinst. Ja, Willi fühlt sich hier sauwohl. Und schwärmt gleich von früher: „Da war man ja noch jünger und wir haben mit allen Campingwagenbesitzern viele Feste gefeiert. Da habe ich so einige tolle Menschen kennengelernt, aber leider sind auch einige schon gegangen.“

Campingplatz direkt an der Nordsee

41 Jahre sind ja auch eine lange Zeit. Ganz so sesshaft war Willi nicht immer, im Gegenteil. Bevor er im Wangerland gestrandet ist, war er ein richtiger Seebär: Mit noch nicht mal 15 Jahren ist er zum ersten Mal zur See gefahren und wartete auf sein erstes Schiff: „Ein Kübel übelster Sorte. MS Friesland – ich glaube, es stand irgendwo ein Schild auf dem Schiff mit dem Spruch ‚Wer hier einkehret, lasse alle Hoffnungen fahren!’“ Mit diesem Schiff fuhr der junge Abenteurer nach England – und war acht Monate seekrank. Trotzdem hat er 1964 in Travemünde seine Matrosenprüfung gemacht, nachdem er auf der Knotenakademie in der Mosesfabrik der Seemännischen Berufsfachschule in Elsfleth gelernt hatte, was ein Schiff ist. „Danach bin ich in alle Herrenländer über die Weltmeere gefahren. Auf Tankern, Fischereifahrzeugen und Frachtschiffen. Ein Passagier-Schiff war auch dabei, da habe ich rosarot gefärbte amerikanische Witwen durch die Gegend geschaukelt. Es war so was von furchtbar.“

Und so hat Willi nach drei Monaten wieder die Biege gemacht und sich überraschend bei der Seefahrtschule angemeldet. Denn: „Arbeiten ist ja nett, aber mit den Händen arbeiten, das gibt abgebrochene Fingernägel!“ Mit 21 drückte Willi in Lübeck an der staatlichen Seefahrtschule im alten Kaiserturm nochmal die Schulbank, um Nautik zu studieren. Jahre später, mit 27, wurde er Marinesoldat und war zum Schluss in Sengwarden stationiert. Es war ein Obermaat, der hier mit seinen Eltern einen Wohnwagen hatte, und Willi fragte, ob er nicht mal mitkommen wolle. Willi wollte. Und kaufte sich Monate später seinen eigenen Wohnwagen, um auf dem Campingplatz sesshaft zu werden. Aus gutem Grund: „Wo habe ich eine solche Luft? Ich war letztens erst an der Ostsee, da ist es ist schön, aber anders. Hier fühle ich mich freier; die Luft ist für mich bekömmlicher. Ich mag es, wenn ich oben auf dem Deich so ganz alleine dastehe und meine Gedanken in die Ferne schweifen. Viele fragen mich immer wieder, warum denn Wohnwagen? Ganz einfach: In einem Hotel bin ich zu Gast. Hier in meinem Wohnwagen bin ich zuhause.“ Sechs Monate im Jahr wohnt Willi in Schillig auf dem Campingplatz. Im Winter lebt er in Hoya an der Weser und für Willi ‚Stadt am Meer, Tor zur Welt, Brücke nach Übersee’. Denn diese Sehnsucht nach der Ferne, die ist noch da: „Ich bin begeisterter Irlandfan und bin die letzten zwei Jahre immer hingeflogen. Dort, in meinem Lieblingsort Lisdoonvarna an der Westküste, habe ich letztes Jahr auch meinen 70sten Geburtstag gefeiert.“

Leben im Wohnwagen im Rentenalter

Die Küste hat es Willi angetan und so schließt sich der Kreis mit dem Leben im Wangerland wieder. „Ich liebe dieses Rentier-Sein. Ich habe hier ein freies Leben, da kannst du mich nur noch mit kaltem Kaffee und warmem Bier vergraulen“, lacht Willi. Dazu besteht freilich keine Sorge, denn die wunderbaren Mitarbeiter des Campingplatzes tun alles dafür, dass die Camper glücklich sind. Und trotzdem gibt es Leute, die meckern. So was macht Willi fuchsteufelswild: „Die gehen mir richtig auf den Sack! Wenn hier nach 22 Uhr die jungen Leute mal einen über den Durst trinken und es etwas lauter wird, stehen die Alten gleich da und schimpfen wie die Rohrspechte rum, man könnte nicht schlafen. Ich sach’ dann immer, dann müsst ihr auf dem Friedhof campen, da ist Ruhe. Wenn ich denke, ich kann nicht schlafen, weil es irgendwo zu laut ist, dann gehe ich hin und sage: „Ihr habt scheißlaute Musik an, ich kann nicht schlafen – habt ihr ein Bier für mich? Und dann trink ich denen alles weg und mein Abend ist gerettet!“

Ja, meckern ist Willis Sache nicht. Warum auch, gibt für ihn ja keinen Grund, selbst dann nicht, wenn es in Strömen regnet: „Bei Schietwetter ist es für mich das Schönste nach dem Aufstehen, man guckt in die Zeitung und genießt sein Frühstück, guckt über den Deich, sinniert so ein bisschen vor sich hin und sacht ‚Menschenskinder noch mal, wat ist das Leben schön’ und schnappt sich ein Buch.“ Und wenn es tagelang schifft? Für Willi ist das auch kein Grund, Trübsal zu blasen. Stattdessen verrät er uns sein Gute-Laune-Geheimnis: Man nimmt ein „24-Röhrengerät“, also eine Kiste Bier, und schaut im Kühlschrank, ob noch ein „Absturzbeschleuniger“ drin ist. Und dann erzählt man sich Geschichten. „Es sind seit 40 Jahren dieselben Geschichten, aber die klingen jedes Mal anders. Wir lügen nicht, aber wir sagen tüchtig die Unwahrheit. Denn jeder erzählt die Geschichte, die er mal gehört hat, immer wieder so, als hätte er sie selbst erlebt. Demnach müssten einige noch mit Columbus hier vorbei gesegelt sein. Das ist das Interessante hier in Schillig und das Besondere an unserem Camper-Leben!“

Interview mit Willi Retzlaff und Video auf Luv und Lü

Autorin: Sylke Sdunzig

Fotos: Tom Tautz